Ein Blick in die Geheimnisse des Porsche-Archivs mit Markenhistoriker Frank Jung
Gestern um 12:00 AM
Das Archiv ist das Gedächtnis des Unternehmens Porsche. Wurde eigentlich seit den frühen Tagen von Porsche konsequent gesammelt und archiviert?
Die Geschichte des Archivs beginnt in den 1930er Jahren. Damals wurden erstmals technische Unterlagen und Zeichnungen gesammelt. Schon im Werk 1 gab es ein eigenes Archiv, das allerdings im Zweiten Weltkrieg durch eine Bombe getroffen wurde. Weshalb wir nur wenige Zeichnungen und Unterlagen aus der Vorkriegszeit haben.
Nach dem Krieg ist Porsche zunächst nach Gmünd in Österreich umgezogen, dann wieder nach Stuttgart. Nicht ideal für ein Archiv. Wie ging es dann weiter?
Durch die verschiedenen Umzüge ist natürlich viel verloren gegangen. Doch Ferdinand Porsches Neffe Ghislaine Kaes, der sich selbst als Privatsekretär und Geschichtsschreiber verstand, hat damals damit begonnen, die Firmengeschichte zu dokumentieren – er hat auch maßgeblich zum Personenkult um Ferdinand Porsche beigetragen. Die zweite wichtige Person in der Geschichte des Archivs war der Ingenieur Karl Rabe. Er war erste Mitarbeiter von Ferdinand Porsche. Und er muss aus meiner Sicht nie geschlafen haben, denn er hat unfassbar viel entwickelt und auch intensiv dokumentiert. Seit den 1950er Jahren hat das Archiv von der Öffentlichkeitsarbeit alle Fotos und Presseveröffentlichungen erhalten, auch der Kontakt zur Rennabteilung war eng und gut. In den 1980er Jahren wurde schließlich entschieden, ein umfassendes, systematisches Porsche-Archiv aufzubauen – unter der Leitung von Klaus Parr. Das Team ist dann kontinuierlich gewachsen und um das Jahr 2008 herum hat Dieter Landenberger das Archiv übernommen. Wir sind dann aus dem Werk 1 auf die andere Straßenseite ins Werk 3 und schließlich ins neue Porsche Museum gezogen. Ich leite das Porsche Archiv seit 2008. Seit Dezember ist nun auch die Verantwortung für die Fahrzeugsammlung des Unternehmens Porsche hinzugekommen.
Und seitdem wird bei Porsche alles gesammelt?
Nun, ein gutes Archiv zeichnet sich ja dadurch aus, dass man Sachen nicht nur weglegt, sondern auch wiederfindet. Das unterscheidet uns von einem Sammler. Das heißt übrigens nicht, dass man als Archivar privat auch immer alles wiederfindet. (lacht)
Wie kann ich mir den Alltag einer Porsche-Archivars vorstellen? Welche Anfragen erhaltet ihr? Und kann ich mich als Porsche-Besitzer direkt bei euch melden?
Zunächst einmal unterstützen wir das Porsche Museum bei der Konzeption und Recherche der Ausstellungen. Seit kurzem sind wir auch für die Fahrzeugsammlung verantwortlich. Darüber hinaus arbeiten wir mit Journalisten und Kunden aus aller Welt. Wir erhalten im Jahr rund 6.000 Anfragen. Welche Farbe hatte mein Auto ursprünglich? Wieviele Autos gab es genau in dieser Farbe? Im Archiv und der Fahrzeugsammlung arbeiten aber nur 13 Festangestellte – um all diese Anfragen zu bearbeiten, haben wir nicht die Kapazitäten. Bei Fragen zu Kundenfahrzeugen helfen gerne die Kollegen von Porsche Klassik. Dort bekommt man auch ein technisches Zertifikat mit historischen Angaben zum Auto. Gutachten, ob ein Auto wirklich echt ist, erstellen wir nur für die Fahrzeugsammlung des Unternehmens.
In Zahlen gesprochen – wie groß ist eigentlich das Porsche-Archiv?
Wir haben insgesamt rund 1.000 Quadratmeter Archivfläche, dreieinhalb Aktenkilometer und etwa fünf Millionen Bilder – digital und analog, auf Dias, Prints, Glasplatten, Negativen. Wir haben rund 4.500 Bücher, knapp 3.000 Stunden Film. Tausende Werbeanzeigen, Poster und Plakate. Und wir haben 25.000 bis 35.000 Exponate. Wobei hierzu auch größere Objekte wie Eins-zu-Vier-Modelle zählen. Alles, was vier Räder hat und im Maßstab 1:1 gebaut wurde, zählt zur Fahrzeugsammlung. Das gilt auch für technische Objekte wie Schnittmotoren oder Ersatzteile. Und dann gibt es noch ein Lager für Designstudien und zahlreiche weitere Unterarchive. Wir versuchen das alles immer mehr zu zentralisieren.
Und wo beginnt für euch die Zeitrechnung, wo endet sie?
Unser Spektrum beginnt bei der Geburt von Ferdinand Porsche im Jahr 1875 – das älteste Objekt ist ein verblasstes Familienfoto aus den 1880er Jahren – und endet praktisch übermorgen. Wenn wir beispielweise die Entwicklung einer neuen „Heritage Design Edition" eines aktuellen Modells historisch unterstützen. Wenn wir unsere eigene Geschichte zitieren, dann idealer Weise auch richtig.
Das Archiv hat einen unschätzbaren Wert – und ist in seinem Wert für die Marke Porsche praktisch unbezahlbar. Wie schützt man solche einen Schatz?
Die wichtigsten Objekte lagern wir in den Archivräumen im Museum, hier haben wir zwei argonfeuerlöschgeschützte Räumlichkeiten. So können im Falle eines Brandes keine Schäden durch Löschwasser entstehen. Zudem haben die Räume eine konstante Temperatur um die 18 Grad und eine bestimmte Luftfeuchtigkeit. Es darf nicht zu feucht sein, damit es nicht schimmelt. Es darf nicht zu trocken sein, damit die Sachen nicht spröde werden und bröseln. Unsere Aufgabe ist es, die Dinge und Informationen für zukünftige Generationen zu bewahren. Das Gedächtnis des Unternehmens sollte auch in 200, 300 Jahren noch vollständig sein.
Wir verlassen das Büro von Frank Jung und betreten den ersten Raum des Archivs. Aktenordner ziehen sich durch endlose Regalreihen. Hier finden sich historische Verkaufskataloge, Farbkarten, auch die berühmten Kardex-Karten, auf denen jeder Porsche der Baujahre 1950 bis 1969 vermerkt ist. Darauf folgen die noch umfangreicheren Produktionsakten. Darin lässt sich genau nachvollziehen, welches Auto mit einer bestimmten Chassisnummer mit welchem Motor und welchen Spezifikationen ausgeliefert wurde.
Auch die Rennsport-Historie von Porsche ist genauestens dokumentiert – neben Entwicklungsakten zu legendären Rennwagen wie dem 904 Carrera GTS oder 917 finden sich die hier die Informationen zu den wichtigen Rennen. Mit welcher Startnummer ist der erste Porsche-Rennwagen im Jahr 1951 in Le Mans gestartet? In welchem Hotel hat das Team am Rossfeld übernachtet, um beim Bergrennen Berchtesgaden zu starten? Kann man hier alles herausfinden. Einige Reihen weiter finden sich Zeichnungen und Entwürfe, die den Designprozess der Entstehung des Porsche 911 nachvollziehen lassen. In wandhohen Regalen stehen Windkanalmodelle, Maßstabsstudien nie gebauter Konzeptautos, Holzmodelle. An den Wänden hängen historische, Original-Rennplakate. Porsche-Jüngern stockt hier der Atem.
Gibt es so etwas wie einen heiligen Gral unter den Porsche-Pretiosen? Welches Objekt im Archiv hat für das Unternehmen den größten ideellen Wert?
Da gibt es eine ganze Reihe von ikonischen Dingen, etwa die erste Zeichnung des Porsche-Wappens. Gezeichnet wurde es von Franz Xaver Reimspiess – er hat auch das VW-Logo entworfen. Wenn ein Kunde seinen hundertsten Porsche abholt und ich ihm bei der Führung durch das Archiv diese Zeichnung in die Hand drücke, dann fängt er ziemlich sicher an zu zittern.
Gibt es ein Objekt, dass dir persönlich besonders am Herzen liegt?
Ja, und das hängt mit meiner persönlichen Geschichte zusammen. Ich habe früher bei der Sitzfirma Recaro gearbeitet, die aus dem Stuttgarter Karosseriewerk Reutter hervorgegangen ist. Und dieser Herr Reutter war mein Urgroßvater. Reutter saß gegenüber von hier in einem Backsteinbau, dort wurden nach dem Krieg die meisten Porsche 356 Karosserien gebaut. Eine Geschäftsbeziehung zwischen dem Karosseriewerk Reutter und dem Konstruktionsbüro Porsche gab es aber schon seit 1931. Und zu dieser Zusammenarbeit haben wir hier im Archiv eine ganze Menge Unterlagen. Es gibt beispielsweise einen Vertrag, den meine Oma unterschrieben hat. Daran hängt natürlich mein Herz.
Wäre es eigentlich denkbar, das gesamte Archiv zu digitalisieren und somit zu sichern?
Es werden bei uns fortlaufend Dinge digitalisiert. Aber ein digitales Archiv ist auch nicht zeitlos. Wenn eine Eins oder eine Null kaputt geht, dann war es das. Genauso wenn es ein Betriebssystem nicht mehr gibt oder einen Datenträger. Vor einigen Jahren galten DVDs als wichtiges Speichermedium. Aber wer hat heute schon noch einen DVD-Spieler? Ein Dia dagegen kann ich einfach gegen das Licht halten und sehe, was darauf ist. Am beständigsten ist zumeist das Original.
Angesichts der unglaublichen Mengen an Material, die bei Porsche täglich entstehen: Wie wird entschieden, was archiviert wird und was nicht?
Natürlich sind wir täglich mit der Frage konfrontiert: Was behalten wir und was nicht? Diese Entscheidungen zu treffen, ist eine der wichtigsten Aufgaben im Archiv - und eine der schwierigsten. Es gibt eine Unternehmensrichtlinie, die vorschreibt, was wir für die Zukunft archivieren wollen. Wenn wir das gesamte Archiv auf die wichtigsten Unterlagen reduzieren müssten, wären das die Vorstandsprotokolle. Darin spiegelt sich die höchste Entscheidungsebene des Unternehmens. Wir haben sie seit den 1950er Jahren vollständig archiviert.
Melden sich bei euch auch manchmal Mitarbeiter mit Fundstücken bei euch?
Viele Dinge sind in der Vergangenheit auch bei Mitarbeitern oder deren Nachfahren zuhause gelandet und findet dann den Weg zurück ins Archiv, wo die Sachen hingehören. Wir selbst finden aber auch immer mal wieder Erstaunliches: Tatsächlich haben wir beim Umbau des Werk 1 einen alten Überseekoffer von 1936 gefunden, mit dem Ferdinand Porsche damals auf der MS Bremen von den USA nach Deutschland zurückgefahren ist. Wir konnten es kaum glauben.
Die Geschichtsschreibung ist keine statische Wissenschaft – unser Bild von der Vergangenheit ändert sich stetig durch neue Funde und Erkenntnisse. Gilt das auch für die Porsche-Geschichte?
Tatsächlich ist es genau so. Oft bieten die Jubiläen einen Grund, sich nochmals intensiv mit einem Modell oder einer Epoche zu beschäftigen. Beim letzten Geburtstag des Porsche 911 haben wir herausgefunden, dass ein Prototyp, den wir bisher als 754 tituliert hatten, eigentlich 695 genannt wurde. Daran hat sich exemplarisch gezeigt, wie kompliziert der Weg vom 356 zum 911 eigentlich war – und wie viele Konstruktions- und Designkonzepte im Prozess wieder verworfen wurden. Natürlich möchte ein Journalist die Entstehungsgeschichte des Elfers aber einfach erklären können. Unsere Aufgabe ist es, hierfür die Vorarbeit zu leisten, damit die Komplexitätsreduktion auf den richtigen Informationen erfolgt.
Die Historie von Porsche ist also nicht nur eine große Erfolgsgeschichte, sondern auch eine Geschichte von Experimenten, Rückschlägen und Misserfolgen?
Wenn wir nur erzählen würden, was alles super läuft, wären wir nicht glaubhaft. Für ein technisch innovatives Unternehmen ist es selbstverständlich, neue Ideen auszuprobieren – und klar gehen dabei auch Dinge schief. Ich teste etwas, es funktioniert oder nicht. Das nennt man Evolution. Es gibt das Zitat von Oliver Blume: «Nur weil sich Porsche immer verändert, ist Porsche immer Porsche geblieben». Nur durch Innovation erreiche ich rückblickend irgendwann einmal eine Tradition. Innovation und Tradition sind bei Porsche kein Gegensatz, das eine bedingt das andere.
Und die Gretchenfrage zum Schluss: Warum ist die eigene Geschichte für eine moderne Automobilmarke überhaupt so relevant? Hilft mir solch ein kostspieliges Archiv, mehr Autos in China zu verkaufen?
Unsere Geschichte macht uns besonders. Und sie erklärt die Kontinuität unserer Produkte, unsere Philosophie, unsere DNA, aber auch unsere Innovationen. Porsche baut heute Elektroautos – genauso, wie es Ferdinand Porsche schon um das Jahr 1900 mit dem Lohner-Porsche getan hat. Und in China ist man sich der eigenen, viele tausend Jahre alten Kulturgeschichte sehr bewusst. Porsche gibt es als Marke zwar erst seit 1948. Aber wenn man erzählen kann, wo man herkommt, ist es leichter, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Geschichte informiert, fasziniert, motiviert und differenziert. Gerade in Zeiten, in denen die emotionalen Faktoren wichtiger werden, kann unsere Arbeit in allen Bereichen im Unternehmen helfen. Wir sehen uns daher nicht nur als direkter Kommunikator, sondern auch als Enabler für nahezu alle Ressorts bei Porsche.
Fotos: Rémi Dargegen
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